die Mobiliar

Wenn die Emmenschlange tobt

Ursachenforschung an der Emme: Der ehemalige Hydrologie-Professor Rolf Weingartner erklärt, warum der Fluss das Emmental immer wieder in Atem hält – zuletzt am 4. Juli dieses Jahres.

Schon Jeremias Gotthelf wusste es: Das Emmental ist ein Gewittertal. Der Berner Pfarrer und Dichter beschreibt in seiner Erzählung «Wassernot im Emmental» den verhängnisvollen 13. August 1837, als ein Gewitter von seltener Intensität ein zerstörerisches Hochwasser auslöste.

Es war die Emmenschlange, deren Stimme den Donner überwand. Man hörte sie, ehe sie kam, lief an die Ufer, auf die Brücke. Tobend wütete die Emme das Tal hinunter, viele hundert Fuss breit …

Mit der «Emmenschlange» meinte Gotthelf die Flutwelle, die sich einer Schlange gleich aufrichtete und an jenem Sonntag im Emmental eine der grössten Hochwasserkatastrophen auslöste.

Flutwelle aus dem Nichts

Am 4. Juli 2022 schlug die «Emmenschlange» wieder einmal zu; diesmal am Oberlauf der Emme. Die Wassermassen, die an diesem Tag durch das schmale Flussbett donnerten, führten dazu, dass der Landgasthof Kemmeriboden-Bad erstmals in seiner fast 200-jährigen Geschichte überflutet und teilweise zerstört worden ist. Zuvor hatte das schweizweit bekannte Ausflugsziel in Schangnau jedem Hochwasser getrotzt. Die Mobiliar steht den Eigentümern beim Wiederaufbau als Versicherung zur Seite. Wann der Betrieb wieder Gäste empfangen kann, ist offen. Seit August betreibt das Kemmeriboden-Bad vorübergehend ein Pop-up-Restaurant in Thun.

«Ich gehe davon aus, dass am Oberlauf der Emme in den letzten 200 Jahren noch nie eine derart hohe Spitze erreicht worden ist», sagt Rolf Weingartner und steht dabei an jenem Abschnitt, wo der Fluss zwei Monate zuvor über die Ufer getreten ist.

Rolf Weingartner kennt die Emme und ihre Eigenheiten aus wissenschaftlicher Optik. Der ehemalige Hydrologie-Professor war Co-Leiter des Mobiliar Lab für Naturrisiken und Leiter der Gruppe für Hydrologie am Geographischen Institut der Uni Bern. Messungen des Bundesamts für Umwelt (BAFU) zeigen: Die Emme schwoll am 4. Juli innert kürzester Zeit zu einer Flutwelle mit einem Spitzenabfluss von 273 Kubikmeter pro Sekunde an – das entspricht dem 60-Fachen des durchschnittlichen Abflusses im Juli.

Unheilvolles Zusammenspiel

Viel Niederschlag in kurzer Zeit ist typisch für die «Gewitterküche» Emmental – regelmässige Hochwasser ebenfalls. «Die Emme reagiert in diesem Gebiet sehr schnell auf Gewitterregen», sagt Weingartner. «Wir sprechen von Minuten.» Das hat verschiedene Gründe. «Die Böden können schon unter normalen Umständen wenig Wasser aufnehmen. Zusätzlich hat die lange Trockenheit in diesem Sommer den Untergrund derart hart gemacht, dass vermutlich rund 70 Prozent des Niederschlags oberflächlich abgeflossen sind.» Das Gelände ist ausserdem sehr steil und formt eine Art Trichter. Auch gibt es keine Speicher in Form von Seen.

Zudem hat gemäss Weingartner eine seltene Konstellation den Spitzenabfluss weiter erhöht: «Die Gewitterfront hat die Flutwelle begleitet und diese verstärkt. Hätte sie an diesem Tag einen leicht andern Weg eingeschlagen, wären die Schäden wohl wesentlich kleiner ausgefallen.» Katastrophen seien immer eine seltene Verkettung verschiedener Faktoren – «das gehört zu ihrer Charakteristik.»

Laut Weingartner erlaubte uns dieser Sommer einen Blick in die Zukunft. «Aufgrund des Klimawandels werden wir solche Extremereignisse häufiger erleben. Wir müssen damit rechnen, dass es in den nächsten Jahrzehnten immer wieder zu Situationen kommt, bei denen extreme Niederschläge auf ausgetrocknete Böden fallen.»